Andreas Pommer ist Leiter des Forstrevier Eibenstock im Staatsbetrieb Sachsenforst. Das Revier Eibenstock ist ein Mittelgebirgsrevier im Erzgebirge mit einem Fichtenanteil im Oberstand von über 90%, mit einer leidvollen Geschichte, die durch die Rauchschäden und durch das Rotwildstaatsjagdgebiet der 1970er–1980er Jahre und einem hohen Schadholzanteil in der Vergangenheit geprägt wurde. In “seinem” Wald hat es sich Andreas Pommer seit etwa 15 Jahren zum Ziel gemacht, Waldwirtschaft und Naturschutz miteinander zu vereinbaren – mit naturgemäßem Waldbau, Waldumbau hin zu strukturreichen, gemischten Wäldern. Eine wichtige Rolle spielen auch Totholz, Biotopbäume, Hochstubben, Moorrevitalisierungen, Bachtalrenaturierungen, Anlage von Kleingewässern, Waldinnen- und -außenrandgestaltung sowie Nisthilfen. Teilweise nutzt Pommer auch innovative Methoden wie Marteloskope, um für Naturschutz zu sensibilisieren. Deswegen hat die Zeitschrift “Forstpraxis” ihn auch für 2020 für den Titel “Förster des Jahres” vorgeschlagen. Wir haben mit Andreas Pommer ein persönliches Gespräch über Herausforderungen für die Forstwirtschaft in Zeiten des Klimawandels und wachsender Erwartungen an den Wald geführt – und über potentielle “integrative” Lösungsansätze, wie wir möglichst viele Waldfunktionen integrieren und unseren Wald langfristig und gesund erhalten können.
Herr Pommer, wir haben viele Erwartungen an den Wald: Er soll uns Holz liefern, Artenvielfalt erhalten oder möglichst noch steigern, und wir wollen uns im Wald erholen – um die bekanntesten “Waldfunktionen” zu nennen. Kann der Wald das überhaupt? Und wenn ja, wie?
Unsere Waldfläche in Deutschland ist von ursprünglich nahezu 100% auf klägliche 30%, in Sachsen sogar nur 28 % zusammengeschrumpft. Die Funktionen und Leistungen allerdings, die der Wald für den Mensch zu erfüllen hat, sind deutlich gestiegen.
Waldwirtschaft wird seit sehr langer Zeit betrieben. Bereits im Mittelalter sind riesige Teile des ursprünglich bewaldeten Mitteleuropas durch den Menschen gerodet worden. Das Holz auf der verbliebenen Flächen war lange Zeit der einzige Energieträger und Baustoffquelle. Die Nachzucht des Waldes und Naturschutzbelange spielten bis ins Zeitalter der Industrialisierung kaum eine Rolle. Heute steht die Multifunktionalität der Wälder im Vordergrund. Alle Waldbesitzenden sind gesetzlich verpflichtet, die Nutz-, Schutz und Erholungsfunktion des Waldes gleichrangig zu berücksichtigen. Der öffentliche Wald hat dabei eine Vorbildfunktion. Mit dem Konzept der integrativen Waldwirtschaft versuchen wir, die Belange des Naturschutzes auf ganzer Fläche zu berücksichtigen. Sie ist damit das Gegenteil von dem Konzept der Segregation, also der Teilung der Waldflächen in Flächenstilllegung zu Naturschutzzwecken und Produktionsflächen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Deutschland seinen Holzverbrauch nicht selbst decken kann, erscheint es mir in solch einer Situation schwer zu vermitteln, Waldflächen stillzulegen und den Holzimport aus anderen Teilen der Welt, nicht selten aus Urwäldern mit zweifelhaften Nutzungskonzepten und hohen Transportkosten und Ressourcenverschleiß zu realisieren. Für mich steht hier die Sache auf dem Kopf.

Wenn wir mehr brauchen, als wir selbst produzieren – was schlagen Sie dann vor?
Zunächst sollte der Holzverbrauch in Deutschland gesenkt werden. Vor allem die energetische Nutzung des Holzes durch alternative Energiequellen wie Wind und Sonne müsste gefördert werden. Das ist nach dem Stand der Technik heute ohne große Probleme zu realisieren, ist aber eine politische Lenkungsaufgabe. Der Wald hat in jüngster Zeit auch immer mehr die Aufgabe der Kohlenstoffbindung. Holz, was wir noch selbst produzieren, sollte qualitativ hochwertig sein und in langfristige Nutzungsprozesse eingebunden sein, um den im Holz gespeicherten Kohlenstoff aus dem Kreislauf zu halten. Auch die Anreicherung von Kohlenstoff im Boden ist für seine Leistungsfähigkeit und als Kohlenstoffsenke auszubauen. Durch die Wurzeln tiefreichender Baum- und Straucharten kann sehr einfach Kohlenstoff im Boden gespeichert werden, auch Humusaufbau durch Biomasseanreicherung am Boden unterstützt diesen Prozess. Aus meiner Sicht lassen sich die verschiedenen Waldfunktionen sehr wohl gut kombinieren, es geht aber nicht ohne Verzicht. Die für mich beste Lösung ist der integrative Ansatz, bei dem wir die Multifunktionalität auf der gesamten Waldfläche sichern. Insellösungen nützen dem Naturschutz nur bedingt und werden das Artensterben nicht aufhalten.
Wie sieht die Integration des Naturschutzes in die Waldbewirtschaftung konkret aus?
Naturschutz geht nicht ohne Verzicht durch den Menschen – unabhängig davon, ob wir von Arten-, Biotop- oder Prozessschutz sprechen. Nach der Eiszeit in Mitteleuropa haben sich auf den verschiedenen Standorten „Waldgesellschaften“ etabliert, die in ihrer Pflanzenzusammensetzung, zwischen Biomasseaufbau und dem Biomasserückbau, der Humus- und Bodenbildung einen weitgehenden Gleichgewichtszustand entwickelt haben. In diesen Biozönosen (Gemeinschaft von Organismen verschiedener Arten in einem abgrenzbaren Lebensraum) hat sich ein nahezu unüberschaubares Geflecht von Pflanzen und Tierarten beteiligt. Daraus folgt, dass menschliche Übernutzung im Wald zu Artenverlusten führen muss. Gleichzeitig hat die Nutzung durch den Menschen Kulturlandschaften geschaffen, die auch artenreich sein können und im Rahmen des Kulturschutzes erhalten und gefördert werden sollten. Die integrative, naturgemäße Waldwirtschaft wird auch dieses Grundproblem nicht lösen und den Urzustand wiederherstellen. Sie kann aber kleine Schritte zur Erhaltung der Artenvielfalt in unseren Wäldern als „Wiedergutmachung“ gehen.
Was verstehen Sie unter „Wiedergutmachung“?
Zu den Grundpfeilern der integrativen Waldwirtschaft in Bezug auf den Naturschutz zählt zum Einen der naturnahe Waldumbau hin zu gemischten, strukturreichen und stabilen Wäldern. Zum Anderen gehören für mich die gesamten Prozesse der Holzzersetzung mit seinen vielen Teilhabern und Nutznießern dazu, z. B. im Bereich der Pilze, der Moose, der Insekten, der Spinnen und Vögel, von der Bildung von Astabbrüchen und Baumhöhlen zu Alt- und Biotopbäumen. Besonders wichtig sind auch stehendes und liegendes Biotop- und Totholz. Hier spielt der Verzicht auf Nutzung eine große Rolle, und das ist auch für einen Förster sehr einfach umsetzbar. Ich kann die Aufarbeitungsgrenzen hochsetzen und ich kann Hochstubben anlegen lassen. Ich kann festlegen, dass nur sägefähiges Holz aufgearbeitet wird, um den Deckungsbeitrag, also den erzielten Erlös zu erhöhen und nicht unnötig Ressourcen in den Wald zu stecken. Eine weitere Möglichkeit zum Biotop- und Artenschutz ist die Erhaltung und Schaffung von Lichtwaldbiotopen z. B. an Wald- und Wegrändern. In meinem Revier bedeutet das: Fichte weg, Sträucher und Blütenpflanzen hin. Blütenpflanzen und Licht sind die Grundlage für vielfältigen Insektenreichtum und die vielen Nutznießer. Auch die naturnahe Gestaltung von Bachtälchen und Fließgewässern und ihren Pflanzengesellschaften, die Erhaltung und Wiederherstellung von Sonderbiotopen – vor allem der seltenen ganz trockenen, xerothermen (trockene und warme) und ganz nassen, hydromorphen (vom Wasser beeinflusste) Biotope (Moorrevitalisierung) spielt eine wichtige Rolle.

Hier hat man als Bewirtschafter gute Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Eine ganz entscheidende Bedeutung für den Waldnaturschutz und für die Schaffung naturnaher Waldlebensräume hat die Anpassung der Bestände verbeißender Schalenwildarten wie Reh und Hirsch, weil ihre Gegenspieler Wolf, Luchs und Bär in unseren Kulturwäldern oft fehlen. Durch den selektiven Verbiss kommt es leider zu erheblichen Artenverlusten in der Kraut-, Strauch- und Baumartenzusammensetzung. Sie sehen: Es gibt unzählige Möglichkeiten, Naturschutz im Wald umzusetzen. Wir müssen es nur tun!
Sie arbeiten seit mehreren Jahren mit Marteloskopen. Was ist besonders an Ihren Demonstrationsflächen?
Ich habe in meinem Revier Eibenstock bereits vor über 10 Jahren anlässlich einer Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW) zahlreiche ertragskundliche Versuchsflächen in verschiedenen Stadien und Waldorten angelegt, um die tatsächlichen Wachstumsgänge – vor allem die Vorratshöhen und Zuwachsdaten – zu ermitteln, die in der klassischen Forsteinrichtung oft nur durch eine Schätzung erhoben wurden. Aus diesen ertragskundlichen Versuchsflächen habe ich nach und nach Marteloskope entwickeln lassen. Der Begriff „Marteloskop“ stammt vom französischen Auszeichnen, „martelage“, und dem griechischen Betrachten/Untersuchen, „skopéin“, ab. Es handelt sich bei einem Marteloskop normalerweise um eine 1 Hektar (10.000 m²) große Waldfläche, in der jeder einzelne Baum mit seinem Standort sowie ökonomischen Wert (in €) und ökologischem Wert (in Punkten z.B. für Spechthöhlen) präzise erfasst und auf einem Tablet-PC in eine App eingespeist werden kann.
Eine besonders interessante Fläche ist ein etwa 200-jähriger Mischbestand aus Fichte, Buche, Weißtanne und Bergahorn mit einer plenterartigen Struktur (junge und alte Bäume stehen auf kleinster Fläche neben- und übereinander) und einem hohem Totholzanteil (ca. 100 Festmeter/Hektar) auf etwa 800 m. ü. NN. Bei der Holzernte in dieser Fläche arbeite ich seit etwa 15 Jahren in Richtung eines Optimalvorrats an Holz, aber verbunden mit der Erhaltung von wichtigen Mikrohabitaten (Kleinstlebensräume), wie z.B. Specht -und Mulmhöhlen, Starkastabrüche, Moos -und Flechtenbewuchs oder Pilzfruchtkörper. Durch die konsequente Anpassung der Schalenwildbestände durch die Jagd auf Rehe und Hirsche verjüngen sich seit dieser Zeit alle Baumarten des Oberstandes im gesamten Bestand ohne Zaun und Einzelschutz. In diesem Bestand kann man die Notwendigkeit der Verknüpfung von Ökonomie und Ökologie bei der Holzernte und die Notwendigkeit der Jagd sehr gut demonstrieren.

Wie vermitteln Sie integrative Waldbewirtschaftung z.B. an Waldbesucher*innen – und welche Rolle spielen die Marteloskope hier?
In meinem Revier habe ich seit Jahren gute Beispiele etabliert, die ich auf den vielen Exkursionen den Besuchern vorstelle. Wichtig ist aus meiner Sicht die wissenschaftliche Begleitung dieses Prozesses, um die Entwicklung zu dokumentieren und die Zielkonformität der Maßnahmen abzuleiten. Marteloskope helfen, Waldbesucherinnen die Zusammenhänge zwischen Waldnutzung und Waldschutz zu erklären und näher zu bringen. Dazu sollte in den Marteloskopen zur Aufnahme der bereits jetzt erfassten Parameter in regelmäßigen Abständen Artenerfassungen erfolgen (Referenzflächen). Ein gutes Beispiel aus meinem Revier ist die Ermittlung von über 70 verschiedenen Moosarten, mehr als 130 Pilzarten und einer Nachtfalterzählung im Bereich des o. g. Marteloskopes “Riedert”. Im Juli 2020 konnten hier 70 verschieden Falter- und Käferarten bei einer nächtlichen Bestimmungs- und Zählaktion erfasst werden. Diese Erfolgserlebnisse werden auch den Besucherinnen bekannt gegeben. Daneben wirkt auch der zunehmend bunte und strukturreiche Wald – vor allem der in meinem Revier mit seinen nahezu 90%-igen, gemischten Vorverjüngungsanteil – auf die Menschen ein und punktet im Vergleich zu den klassischen Nadelholzreinbeständen.
Wie muss Ihrer Meinung nach Waldbewirtschaftung in der Zukunft aussehen, damit wir langfristig von den Ökosystemdienstleistungen des Waldes profitieren können?
An erster Stelle steht in meinen Augen der Walderhalt und die Waldmehrung, wenn wir von den Ökosystemdienstleistungen als Gesellschaft profitieren wollen. Der Verlust von Waldfunktionen und Gemeinwohlleistungen, wie wir ihn derzeit auf Grund von Klimawandel und den damit verbunden Schäden (“Kalamitäten” genannt) im Wirtschaftswald und in vielen Großschutzgebieten erleben, stellt unsere Gesellschaft vor eine riesige Aufgabe. Zunächst gilt es, die Rahmenbedingungen für einen flächendeckenden, naturnahen Waldumbau zu schaffen. Hier steht aus meiner Erfahrung an erster Stelle die Anpassung der verbeißenden Schalenwildbestände. Ohne diese Anpassung wird es keinen Waldumbau geben. Die Natur ist sehr wohl in der Lage, auf veränderte Klimabedingungen zu reagieren. Mitteleuropa ist klimatisch Waldland, und damit ist die Endstufe der Sukzession nahezu überall der Wald. Das bedeutet, wenn man zum Beispiel einen Acker nicht mehr bewirtschaften würde, stellt sich dort am Ende Wald ein, und es bleibt Wald.
Wenn alles am Ende Wald wird – haben wir dann überhaupt ein Problem?
Die Frage ist, um welchen Wald es sich dann handelt: Wenn die wichtigen, sich natürlich verjüngenden Laubbaumarten immer wieder verbissen und weggefressen werden, weil die Regulation von Reh und Hirsch durch den Menschen und/oder Großraubtiere nicht funktioniert, dann kann vielerorts die Natur nur in Sukessionsstufen verharren, die die gewünschte Multifunktionalität von Klimaxwäldern (bezeichnet in der Ökologie einen relativ stabilen “Endzustand” der Vegetation) nicht erfüllen. Des Weiteren sind finanzielle Förderungen für den Privat- und Kommunalwald notwendig, die gezielt auf die Multifunktionalität und die Erfüllung von Gesamtwohlleistungen des Waldes abgestimmt sind.
Und wenn Sie einen „Waldwunsch“ hätten für kommende Generationen?

Für mich sieht ein zukunftsfähiger Wald gemischt, strukturreich, totholzreich und artenreich aus. Je nach Standort gibt es dort eine naturnahe Baumartenzusammensetzung, eine permanente Vorverjüngung, im Idealfall aus Naturverjüngung, und es gibt keinen Schutz gegen Wildverbiss und Schäle (keine Zäune und auch keinen Einzelschutz). Weiterhin wünsche ich mir feste Arbeitsgassen mit einem Mindestabstand von 40 m und einem ausreichenden Erschließungssystem an Waldwegen mit gut ausgebauten, artenreichen Innensäumen, naturnahen Bach- bzw. Flussläufen. Auf schwer oder unbewirtschaftbaren Waldstandorten (z. B. Moore, Steilhänge, Auen) sollen Rückzugsgebiete für bedrohte Tier- und Pflanzenarten sein. Bei der Bewirtschaftung bzw. Holzernte wird grundsätzlich der Ressourcen- und Technikeinsatz und die Auswirkungen auf die Natur mit dem vielfältigen Nutzen für den Menschen abgeglichen. Im Wald der Zukunft wird hoffentlich nach wie vor wertvolles Holz als nachwachsender Rohstoff geerntet. Für den Menschen weniger wertvolles Holz, zunehmend auch stärkeres Holz, bleibt dagegen im Wald für die natürlichen Prozesse, als Lebensraum, als Wasserspeicher, als Nährstoffe und als Humus erhalten. Schlussendlich wünsche ich mir noch, dass wir den Wald der Zukunft immer noch frei betreten und uns an ihm satt und gesundsehen können.